Im Jesidentum werden bei religiösen Festen und bei bestimmten Anlässen religiöse Texte vorgetragen. Diese Texte konnten über Jahrhunderte nur mündlich weitergeben werden. Deshalb hat das Jesidentum auch keine heilige Schrift, vergleichbar mit der Bibel, der Tora oder dem Koran. Doch das Jesidentum hat heilige Texte.
Zu den heiligen Texten gehören vor allem die religiösen Hymnen (Qawls). Weiterhin zählen dazu Gebete (Dua), Lobeshymnen (Beyt), Botschaften (Qesîd) und Klagelieder (Jandil). Die Mehrheit der heiligen Texte sind die religiösen Hymnen. Die heute vorliegenden heiligen Texte wurden im Wesentlichen im 12. Jahrhundert vollendet. Das ist die Zeit des großen jesidischen Reformers Scheich Adi, der die jesidische Gemeinschaft sehr geprägt hat.
Das Wissen über die Texte hatten im Jesidentum lange Zeit nur bestimmten religiöse Würdenträger, wie Scheichs und Pirs. In den 1970er Jahren begann vor allem der im Jesidentum angesehene Religionsexperte Pir Khidir Sulayman, erstmalig die Texte, Gebete und Traditionen der Religion umfassend zu sammeln, aufzuschreiben und so zu bewahren. Mittlerweile sind viele von ihnen auch in die deutsche Sprache übersetzt worden.
Die religiösen Hymnen (Qawls) beinhalten wichtige Informationen über die jesidische Religion, die Werte des Jesidentums und über Lebens- und Verhaltensweisen. Sie werden gesprochen oder gesungen. Die gesungenen Qawls werden teilweise nach einer bestimmten Melodie vorgetragen (Kubrî) und dabei von den als heilig angesehenen Musikinstrumenten, dem großen Tamburin (def) und der langen Flöte (sibab), begleitet.
Für das Jesidentum sind die religiösen Hymnen das Fundament des Glaubens. Jesidinnen und Jesiden sagen: „Me îman ji Qawl e”, was bedeutet „Wir beziehen unseren Glauben aus den religiösen Texten“. Im Jesidentum nennt man Personen, die die Qawls auswendig beherrschen und mündlich überliefern: Qawals. Es sind besonders ausgebildete Kenner der religiösen Texte. Sie gaben und geben ihr religiöses Wissen von Region zu Region, von Dorf zu Dorf, weiter. Sie gelten auch als das Gedächtnis der jesidischen Religion. Heute kommen Qawals auch nach Deutschland oder leben selbst hier und tragen die religiösen Texte bei bestimmten Anlässen vor.